Die Studie widmet sich, aufgrund der Unterrepräsentanz männlicher Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen, einem wichtigen Thema der Frühpädagogik (vgl. AutorengruppeFachkräftebarometer 2019). Der rekonstruktive Zugang ermöglicht, insbesondere durch die soziogenetische Typenbildung, einen Einblick in einen systematischen Zusammenhang der spezifischen Zusammensetzung von Kita-Teams und ihrer jeweiligen kollektiven Perspektive auf die Kategorie Geschlecht, die als kollektiver Bedeutungshorizont auch in der pädagogischen Arbeit mit den Kindern der Einrichtung als relevant zu erachten ist.
Diskurs 1/2021
Ein wegweisender Beitrag zum Diskurs über die Wahrnehmung und Relevanz von Geschlechteridentität in der frühpädagogischen Profession.
Soziale Arbeit 12.2020
1. Kommentar (Ludger Pesch)
Ich habe diese Studie mit Gewinn gelesen. Denn einerseits – ich wage die These – ist der Geschlechterdiskurs inzwischen Mainstream. Mir sind schon lange keine einigermaßen ernsthaften Gesprächspartner*innen im Feld der Bildung mehr begegnet, die eine Relevanz der Geschlechter-Kategorie leugnen würden. Andererseits sind die Probleme damit längst nicht positiv bearbeitet. Welche unterschiedlichen Umgänge – kognitiv, emotional und handelnd – lassen sich im Feld identifizieren? Der Studie gelingt es plausibel und nachvollziehbar, unterschiedliche sinngenetische Typen zu konstruieren, also Team-„Typen“ des Umgangs mit der Geschlechterfrage – das schafft einen differenzierenden Einblick. In der Soziogenese werden neben Geschlecht bzw. überlappend mit Geschlecht insbesondere die Heterogenitätsdimensionen Alter und Generation „als ursächlich“ (siehe S. 97) für diesen unterschiedlichen Umgang ausgemacht, da diese Dimensionen in einem direkten Zusammenhang „mit der Beschäftigung mit geschlechtsbezogenen Themen während der Ausbildung“ (ebd.) stehen. Während die vorliegende Studie also in der Analyse Stärken zeigt, fällt aus meiner Sicht (verantwortlich für die Aus- und Fortbildung von Sozialpädagog*innen) der abschließende Teil „Diskussion der empirischen Befunde“ (siehe S. 92ff.) sehr knapp aus. Zwar stellt die Studie der aktuellen Ausbildung von pädagogischen Fachkräften ein gutes Zeugnis aus, da diese den reflexiven Umgang mit Geschlecht inspiriert (Typus I & IV). Folgerichtig wird daher auch die Vermittlung von Genderkompetenzen insbesondere im Rahmen von Weiterbildung bestehender Einrichtungsteams gefordert (siehe S. 97f). Gewünscht hätte ich mir allerdings auch Aussagen darüber, welche Inhalte und Interventionen geeignet sind, um die unterschiedlichen Typen hinsichtlich ihrer Genderkompetenz zu fördern.
Prof. Dipl. Päd. Ludger Pesch ist seit April 2018 Direktor des Pestalozzi-Fröbel-Hauses in Berlin
2. Kommentar (Christiane Gebhardt)
Mit großem Interesse habe ich diese Studie gelesen. Viele Aussagen der Pädagog*innen sind mir aus der Praxis sehr geläufig.
Drei Aspekte haben mich besonders beeindruckt, weil ich diese bisher nur einzeln beobachtet habe und mir durch die Studie die bisher nur vermuteten Zusammenhänge deutlich geworden sind:
Erstens sind mir die herausgearbeiteten „Team-Typen“ vertraut. Während ich die identifizierten Typen I und IV für sehr wünschenswert halte, weil diese sich bewusst, aktiv und lebendig mit dem Thema Gender auseinandersetzen, erscheinen mir die beiden anderen Typen (II & III) nachteilig für die kindliche Entwicklung; sie legen Veränderungsbedarf nahe. Zweitens wird die enorme Bedeutung von (Team-)Weiterbildung in Bezug auf Gender für pädagogische Fachkräfte, deren Ausbildung bereits lange Zeit zurückliegt, verdeutlicht. Der wichtige dritte Aspekt sind die Erkenntnisse über die Altersmischung bei der Zusammensetzung von Teams. Diese Studie fordert erneut zu einem deutlichen Apell heraus: Pädagogische Teams müssen mehr Zeit bekommen, um Fragen von Heterogenität und Gender im alltäglichen Tun miteinander zu diskutieren und im Team zu reflektieren! Derzeit bleibt im Kita-Alltag kaum oder gar keine Zeit, um z. B. „konkrete Praxisfälle bzw. sogenannte Dilemma-Situationen“ (siehe S. 98) zu bearbeiten und neue Handlungsmöglichkeiten zu ritualisieren.
Die sehr wünschenswerte zunehmende Vielfalt in den Teams muss durch zeitliche Ressourcen, durch Teamfortbildungen etc. unterstützt werden, damit wir die für die Entwicklung der Kinder (und damit auch für die Entwicklung unserer Gesellschaft) ungünstigen Teamtypen überwinden können.
Christiane Gebhardt ist als Praxismentorin mit der Ausbildung von angehenden pädagogischen Fachkräften beim ev. Kirchkreisverband für Kindertageseinrichtungen Berlin Mitte-Nord beschäftigt.
3. Kommentar (Christine Weinbach)
Die noch junge praktische Umsetzung der geschlechterpolitischen Zielsetzung, Männer als Kita-Fachkräfte zu gewinnen, steht vor einer bedeutenden Entscheidung. Denn ein aus historischen Gründen geschlechtlich konnotiertes Arbeitsfeld, das durch die Integration des ‚falschen’ Geschlechts irritiert wird, kann eigentlich nur zwei Strategien der Problembewältigung entwickeln: Es kann die Verklammerung von Geschlecht und Fachlichkeit zugunsten von Geschlecht oder Fachlichkeit aufbrechen.
Sowohl in der Fachdiskussion als auch in der fachlichen Praxis finden sich beide Ansätze. Die Studie von Cremers/Stützel/Klingel zeigt, warum es der Politik nicht egal sein kann, für welche Art Pfadabhängigkeiten die Weichen gestellt werden.
Werden nämlich Strategien der Naturalisierung von Geschlecht herangezogen, überlagern Geschlechterstereotype die erworbene Fachlichkeit. Diese Betonung geschlechtsstereotyper Eigenschaften kann die – politisch gewollte – Einbeziehung des ‚anderen’ Geschlechts zwar legitimieren; die geschlechterpolitische Zielsetzung selbst jedoch wird durch sie untergraben.
Erst die Betonung von Fachlichkeit schwächt die vergeschlechtlichte Bedeutung des Berufsfelds auf politisch gewünschte Weise. Als Motiv für Männer, den Beruf der Erzieherin zu ergreifen, können individuelle Wünsche jenseits vorgestanzter Lebensentwürfe gelten. Die Erzieherinnen wiederum können sich auf Kollegen freuen, welche die lückenhafte Personaldecke, unter der viele Kitas heute leiden, schließen helfen.
Die Eckpfeiler für eine gelingende Verwirklichung sind durch die Studie markiert: Weil vor allem die „Beschäftigung mit geschlechtsbezogenen Themen während der Ausbildung“ in der Berufspraxis einen reflexiven Umgang mit Geschlecht und Fachlichkeit motiviert, ist es dringend notwendig, auch ältere Fachkräfte zu erreichen und die „ bei der "Vermittlung von Genderkompetenz in Aus- und Weiterbildung einen Schwerpunkt auf die Weiterbildung schon bestehender Einrichtungsteams zu legen“ (S. 98).
PD Dr. rer. Soc. Christine Weinbach beschäftigt sich aktuell im Rahmen eines von der DFG geförderten Forschungsprojekts mit „der Kita als wohlfahrtsstaatlicher Baustein im Workfare State“