Was ist Liebe von Esther Kant | Ein Krimi vor dem Hintergrund der Wende | ISBN 9783943949018

Was ist Liebe

Ein Krimi vor dem Hintergrund der Wende

von Esther Kant
Buchcover Was ist Liebe | Esther Kant | EAN 9783943949018 | ISBN 3-943949-01-X | ISBN 978-3-943949-01-8

Was ist Liebe

Ein Krimi vor dem Hintergrund der Wende

von Esther Kant

Auszug

Er war tot, das sah sie gleich. Er lag nackt auf dem Bett und starrte sie blicklos an. Obwohl sie sich nicht rühren konnte, ging sie näher zu ihm. Er hatte Schuss-, und Stichverletzungen. Sie verbot ihrem Kopf zu glauben, was ihre Augen sahen, und hoffte ohnmächtig zu werden, aber sie blieb wach, sehr wach. „Ein Arzt!!!“, durchschoss es sie, dann stürzte sie aus seinem Schlafzimmer in sein Wohnzimmer. Dort stand sein Schreibtisch und dort war ein Telefon. Unter der Tür blieb sie entsetzt stehen. So hatte sein Wohnzimmer noch nie ausgesehen. Ihre Augen irrten durch den Raum und versuchten das Chaos aufzunehmen. Alles lag kreuz und quer und war verschmiert, mit Blut. Blut. Blut. Die Papiere waren vom Schreibtisch auf dem Boden gefegt, seine Klei- dungsstücke hingen über der rosa Couchgarnitur und seine Schuhe standen mitten im Raum. Als wollten sie davonlaufen. „Als hätte es einen Kampf gegeben“, überlegte sie, bevor sie eine Hose und ein blutverschmiertes Hemd registrierte, die sie nicht kannte. Ihr wurde übel und sie hatte das Gefühl sich übergeben zu müssen, also rannte sie ins Bad. Aber das Bad war noch verschmierter. Auf dem Boden lag ein Mann in seinem Blut. „Michael Sunshine“, dachte sie entsetzt und verstand die Welt nicht mehr. Dann stieß sie einen Schrei aus. Auch er hatte mehrere Stichverletzungen. Besonders an seinem Hals klaffte eine große Wunde. Ihr Blick strich über den Mann, der mit einem BH, einem blauen Tangahöschen und einem Strapsgürtel bekleidet war, an dem Seidenstrümpfe hingen. Er war sehr stark behaart und das beruhigte sie etwas, Michael Sunshine hatte keine Haare am Körper, das wusste sie. Sein Freund hasste dies! In Gedanken sah sie ihn wieder, wie er sich vor dem großen, bodenlangen Spiegel in Rhetts Büro drehte. Er hatte Reizwäsche anprobiert und sie hatte sich gewundert den berühmten deutschen Schlagersänger, den Traumschwiegersohn aller Mütter, hier auf Rhetts Einkaufsparty zu treffen, auf der sich normalerweise nur die homosexuelle Szene der Berliner Politiker und Geschäftswelt ein Stelldichein gab. Dann hatte sie seinen Begleiter wieder erkannt. Er gehörte zur Führungsriege der Treuhand. Erst vor kurzem war er zum dritten Mal Vater geworden. Unzählige Bilder seiner glücklichen Familie waren durch die Boulevardpresse gegangen. Der am Boden liegende Mann schien sie aus halb geöffneten Augen anzusehen, aber sein Blick war tot. So tot wie er selbst. Nein, er war nicht Michael Sunshine! Jetzt war sie sich sicher. „Er ist seit Wochen auf Japantournee“, bestätigte ihr Kopf. „Er kann es nicht sein!“ Sie warf noch einmal einen prüfenden Blick auf ihn. Jetzt zuckte sein Auge und sie wich zurück. Lebte er doch noch? Oder hatte sie sich das Zucken nur eingebildet? Nach einigen Sekunden beugte sie sich wieder nieder und berührte aus Versehen seine Hand. Sie war kalt und tot und sie zog entsetzt ihre Hand zurück. Dann rannte sie panisch aus dem Bad, durch das Wohnzimmer und aus dem Apartment. Vor der Tür blieb sie stehen. Es waren nur einige Minuten vergangen, seit sie das Apartment betreten hatte. Rhett hatte nicht auf das Klingeln des Telefons reagiert. Wie jeden Morgen hatte sie ihn wecken wollen, aber er hatte nicht abgenommen. „Menschen wie Rhett können nicht sterben!“, sagte etwas in ihr und der Gedanke tat gut. Sie war versucht, wieder zurück zu gehen und noch einmal nachzusehen, ob er wirk- lich tot war, aber ihre Beine schienen am Boden fest zu kleben. Also bewegte ihr Blick sich. Er schweifte durch den großen Raum, der eine Treppe tiefer lag und der durch das kommende Tageslicht und die offenen Rollladenritzen leicht erhellt wurde. Was sollte sie nur tun? Kein klarer Gedanke kam in ihr Bewusstsein, alles war durcheinander. Sie setzte sich auf die Treppe. Dann bemerkte sie das Mobiltelefon in ihrer Hand. Sie hatte es völlig vergessen! Wen ruft man in solchen Momenten als erstes an? Den Krankenwagen, den Leichenwagen? Ihr schauderte! Die Polizei? Eine Telefonnummer meldete sich plötzlich in ihrem Kopf. Ihr Bewusstsein hatte sie längst vergessen, oder verdrängt, aber ihr Unterbewusstsein schien sie immer noch gespeichert zu haben. „Am Besten, Du lernst die Nummer auswendig“, hatte er empfohlen. Eine Sekunde stutzte sie. Sollte sie ihn wirklich anrufen? Sie zitterte und ihre Füße bewegten sich, als wollten sie davon laufen. Ihr Blick ging automatisch auf ihre Armbanduhr. Kurz nach 6:00 Uhr, das hieß 23:00 Uhr in New York. Konnte sie sich wirklich an ihn wenden? „Rhett ist tot, Du musst anrufen!“, gebot ihr Verstand. Ob er noch wach war? Sie sah ihren Fingern zu, wie sie die Nummer, die ihr Unterbewusstsein aufsagte, eintippten. Dann hörte sie seine Stimme. Sie holte tief Luft. „Hier ist, ist Sonja“, stotterte sie unsicher, „weißt Du wer?“ „Sonja?!?“ Seine Stimme schien nicht einmal so verwundert. Fast hörte sie sich erleichtert an. Sie wollte weiter sprechen, aber ein Schluchzen kam in ihren Kehlkopf und legte ihn lahm. „Sonja was ist geschehen? Was verschafft mir die Ehre Deines Anrufs?“, fragte er nach einiger Zeit. „Rhett ist tot!“ Ihre Knie begannen zu zittern und am anderen Ende wurde es still. „Rhett ist tot?“, wiederholte er dann. „Im Bad liegt noch ein Toter“, sagte sie und nun rannen die Worte regelrecht aus ihrem Mund. „Ich hab ihn wecken wollen, aber dann lag er tot im Bett und der andere liegt im Bad und zuerst dachte ich,. aber er ist doch auf Tournee. und Michael ist nicht behaart. Ich wusste nicht wen ich anrufen soll. Er ist doch schon tot, also braucht er keinen Arzt mehr zudem.!“ Sie verstummte weil die Sonne ihre ersten Strahlen durch die Rollladenschlitze steckte und diese sie im Gesicht trafen. Das lenkte sie einen Moment ab. Es würde ein schöner Tag werden, warm und sonnig, wie sie es liebte. Aber Rhett war tot! „Was soll ich nur tun?“, stammelte sie, dann hörte sie von unten ein Rascheln und plötzlich war ihr Herz im Hals. Sie spürte es zumindest dort pochen. Der Mörder, durchfuhr es sie, vielleicht ist er noch im Haus. Sie hatte Mühe, nicht vor Angst überzuschnappen. „Glaubst Du, der Mörder ist noch im Haus?“, flüsterte sie dann und versuchte aufzustehen. Aber sie konnte sich nicht bewegen. „Wo bist Du?“, fragte er in ruhigem Ton. „Auf der Treppe im großen Wohnzimmer“, flüsterte sie. „Geh in Dein Apartment und schließ Dich ein“, sagte er und seine ruhige Stimme gab ihr Kraft zum Aufstehen. Als sie stand, rannte sie wie eine Verfolgte in ihr Apartment. Mit zitternden Fingern schloss sie die Tür von innen ab, dann lehnte sie sich fröstelnd an sie, obwohl sie schwitzte. Nun wurde sie ruhiger und fühlte sich sicherer. Ein Zimmerschloss, meinte ihr Kopf verächtlich, für jeden Einbrecher eine Leichtigkeit es aufzubrechen. Sie hörte wieder in den Hörer. Er sprach, aber nicht mit ihr. „Bist Du in Deinem Apartment?“, fragte er, dann hörte sie ihn wieder irgendetwas sagen, konnte es aber wieder nicht verstehen. Heute verstand sie kein Englisch. Sie griff nach einem Stuhl, stellte ihn vor die Türe und setzte sich auf ihn. Wenn der Mörder durch die Tür schießt, bist du gleich tot, überlegte sie, blieb aber trotzdem sitzen. „Ich buche eine Maschine und komme so schnell wie möglich zu Euch“, sagte er plötzlich. Zu Euch, durchschoss es sie, aber Rhett war doch tot! „Das dauert Stunden, bis Du hier bist!“, schrie sie. „Was mach ich in der Zwischenzeit? Soll ich die Polizei rufen?“ Einen Moment war es ruhig, dann hörte sie ihn wieder etwas sagen, das aber wieder nicht ihr galt. „Ich muss kurz auflegen, ich melde mich wieder in ein paar Minuten“, sagte er unerwartet und schon vernahm sie das Tuten des aufgelegten Hörers. „Ich habe soeben mit Franz Rosenfeld gesprochen“, meldete er sich wieder. „Er ist Anwalt und ein guter Freund der Familie. Er macht sich sofort auf den Weg zu Dir. Allerdings kommt er aus München. Er wird sich um Dich kümmern. Er wird auch die Polizei verständigen. Du musst also nichts unterneh- men. Warte einfach, bis er da ist.“ „Aber das dauert Stunden und ich habe Angst, solche Angst“, flüsterte sie, während sie überlegte wen sie verständigen könnte und wer schnell bei ihr sein würde. Ihre Eltern wohnten weit weg in Blaubeuren, in Berlin blieb nur Conny. Aber wenn Conny erfuhr, dass Rhett tot war, musste sie ihn trösten und dazu war sie im Moment nicht fähig. „Du brauchst keine Angst zu haben“, hörte sie Johns Stimme und sie wunderte sich wie weich, zärtlich und tröstend sie sein konnte. „Für Dich dürfte keine Gefahr bestehen. Wenn man Dich hätte umbringen wollen, wäre dies längst geschehen, heute Nacht, als man Rhett.“ Er schwieg plötzlich. „Hast Du nichts gehört?“, wollte er dann wissen. „Nein!! Ich war bis nach Mitternacht weg, dann habe ich geschlafen und heute Morgen war er tot.“ War er wirklich tot? Hatte sie das richtig gesehen, überlegte sie plötzlich, weil ihr alles so unglaublich vor- kam. Sollte sie nicht noch einmal zu ihm gehen und nachsehen? Vielleicht lebte er noch und brauchte nur ihre Hilfe! Vielleicht konnte man ihm doch noch helfen! Panik überkam sie, aber dann sah sie wieder seinen toten Blick, seine tote Haut und sein totes Gesicht vor sich. „Vielleicht war alles nur ein Unfall“, sagte John plötzlich. „Versuch Dich abzulenken. Rosenfeld wird in einigen Stunden bei Dir sein, wie ich auch. Ich bin noch im Büro und muss schnell nach Hause ein paar Sachen packen. Ich komme, so schnell ich kann.“ Er zögerte kurz. „Noch etwas Sonja, rühre nichts an. Lass alles, wie es ist. Warte, bis ich“, er räusperte sich, „warte bis die Polizei kommt. Es könnten wichtige Spuren verwischt werden.“ Die Leitung wurde unterbrochen und sie stand sekundenlang wie erstarrt, dann fiel ihr auf, dass sie die Rollläden in ihrem Apartment noch nicht ganz hochgezogen hatte, also zog sie sie hoch. Draußen mühte sich ein schöner Tag mit dem Wachwerden ab. Die Sonne schien immer strahlender und die Vögel zwitscherten. Sie seufzte, ein so schöner Tag. Und Rhett war tot! Sie sah zur Tür, vor ihr stand der Stuhl. Vor dem Stuhl waren Blutspuren. Sie stieß einen leisen Schrei aus und sah auf den Boden. Überall waren blutige Fußabdrücke, auch da, wo sie jetzt stand. Sie hob ihren linken Fuß. Blut! Auch der andere Fuß war beschmiert, aber das Meiste war schon auf dem Fußboden abgetreten. Wie eine Verrückte rannte sie ins Bad und brauste ihre Füße ab. Sie drehte die Dusche ab, überlegte, rannte zur Tür und stellte den Stuhl unter den Türgriff, dass man diesen nicht mehr herunterdrücken konnte. Dann kontrollierte sie noch einmal das Schloss. Es war abgeschlossen. Beruhigter ging sie in ihr Bad, aber die Tür ließ sie geöffnet. Die Füße brauste sie noch einmal ab, schließlich zog sie sich aus und duschte, immer wieder und wieder, dann verstöpselte sie die Wanne und ließ das Wasser einlaufen. Geistesabwesend sah sie zu, wie das Wasser sich sammelte. Dann legte sie sich in das erholsame Nass und streckte sich aus, während ihre Gedanken, wie wild gewordene Bälle, durch ihren Kopf schossen. Nebenan lag Rhett und ein toter Fremder. Was war nur geschehen? Man kann doch nicht einfach eines Morgens erwachen und Rhett ist tot. Wer ist der Fremde? Wo ist der Mörder? Hat der Fremde Rhett umgebracht? Jetzt saß sie senkrecht in der Wanne. Warum hätte er ihn umbringen sollen? Warum war Rhett überhaupt tot? Er war doch ein lieber, höflicher Mensch! Manchmal konnte er unmöglich sein, überlegte sie weiter, aber er war ein guter Geschäftsmann und hatte ein Händchen für gute Geschäfte. Natürlich musste er als solcher auch eine gewisse Härte zeigen. Aber war das ein Grund ihn umzubringen? Vielleicht war noch ein Dritter bei ihnen gewesen, überlegte sie, und der liegt irgendwo im Haus, vielleicht unten in der Küche, auch tot. Plötzlich sah sie im ganzen Haus Leichen liegen und hatte Mühe sich wieder zu beruhigen. Sie versuchte, sich den Fremden lebendig vorzustellen. Lebendig glich er Michael Sunshine wahrscheinlich nicht. Zudem war Michael Sunshine nie Rhetts Typ gewesen. Das Klingeln des Telefons holte sie aus ihren wirren Gedanken. Mit einem Hechtsprung nahm sie das Telefon und wäre fast ausgerutscht. „Guten Morgen, Frau Baily“, meldete sich die förmliche Stimme ihrer Sekretärin, Frau Hummel. „Bitte entschuldigen Sie die Störung. Ihr Mann ist noch nicht eingetroffen. Um acht sollte aber die Sitzung mit Herrn Raab beginnen.“ Sie holte Luft. „Aber weder Herr Walter noch ihr Mann ist bis jetzt eingetroffen und Raab wartet bereits seit einer viertel Stunde.“ Die Sitzung! Siedendheiß fiel es ihr wieder ein. Natürlich, daran hatte sie nicht mehr gedacht. Rhett hatte ihr noch berichtet, dass er einen Millionenkredit von Raab wollte. Um ihn gefügiger zu machen, hatte er noch andere Banken gebeten, ein Angebot zu unterbreiten. „Er wird mir das Geld geben, Du wirst sehen“, hatte er gesagt und sein berühmtes, schelmisches Grinsen aufgelegt. „Letztendlich gibt er mir immer, was ich will! 0,7 % unter den marktüblichen Zinsen muss er liegen, sonst mache ich das Geschäft mit einem Anderen.“
Heute sollten die Verträge ausgehandelt werden! Aber heute, war Rhett tot! „Mmhmm“, hörte sie ihre Sekretärin sich in Erinnerung räuspern. Sie musste sich erst etwas zusammenreimen, dann versuchte sie ihre Stimme sicher und bestimmt klingen zu lassen. „Tut mir leid, aber heute müssen alle Termine abgesagt werden. Herr Walter muss jeden Moment eintreffen. Ich weiß nicht, wo er ist. Sicher hat er sich nur verspätet.“ Wahrscheinlich hat er wieder die ganze Nacht gespielt, überlegte sie. „Er soll sich um Herrn Raab kümmern. Er weiß bestimmt genauso gut Bescheid, wie mein Mann. Wir werden beide nicht kommen können! Mein Mann ist tot!“ Sie erschrak über ihre Aussage und kam ins Schwitzen. „Quatsch“, korrigierte sie sich, „er liegt wie tot im Bett, wenn er nicht auf der Toilette sitzt, oder sie umarmt, weil er sich übergeben muss.“ Sie musste ein Aufschluchzen unterdrücken und wartete angespannt auf eine Reaktion, aber Frau Hummel war einfach ruhig. „Ich bin auch krank, mich hat es auch erwischt“, fuhr sie nach einigen Sekunden fort. „Wir waren gestern Abend essen. Irgendetwas müssen wir nicht vertragen haben.“ „Neiiiin!“, kam endlich Frau Hummels fassungsloser, mitfühlender und neugieriger Ausruf. „Wo waren Sie denn?“, fragte sie im Plauderton, aber sie hatte keine Lust, weitere Lügen zu konstruieren und versuchte in sachlichem Ton Anweisungen für den Tag zu geben, während Frau Hummel ihre Ratschläge für Pfefferminztee und Zwieback hinunterschluckte. „Wenn Herr Walter im Haus ist, soll er sich melden.“ Ihre Genesungswünsche hörte sie sich nicht mehr an. Sie musste auflegen, weil ein Schluchzen sich in ihrer Kehle ausbreitete. Was sollte nur aus dem Geschäft werden, ohne Rhett? Die Frage stach wie ein Dolch in ihr Gehirn. Er war die Seele des Geschäftes, der Kopf, der Macher, von allen geliebt und verehrt, aber auch respektiert. Wie sollte sie ohne ihn weiter machen? Sie sah ihn in Gedanken nackt und tot auf seinem Bett liegen und hatte plötzlich das Bedürfnis, zu ihm zu gehen, ihn anzufassen, oder einfach nur bei ihm zu sein. Er ist tot und fühlt sich bestimmt eiskalt an, warnte ihr Kopf, zudem musst Du dafür Dein sicheres Apartment verlassen. Warum hat er den Fremden überhaupt mitgebracht? Er hatte doch Conny? Wo war eigentlich Conny? Hatten sie sich nicht treffen wollen? Sie war wieder versucht, Conny anzurufen, ließ es aber doch. Conny würde es noch früh genug erfahren. Seit es Conny gab, war Rhett treu. Sie liebten sich heiß und innig! Dabei hatte sie selbst eine Zeit lang geglaubt, dass Rhett sie lieben würde. Schon ihr erstes Zusammentreffen war seltsam gewesen und später hatte sie sich gewundert, dass er ihr, einer Frau, die Architektenstelle gegeben hatte. Irgendwann hatte sie die Stellenanzeige, auf die sie gewartet hatte, gelesen. Um der kleinkarierten Welt ihrer Eltern und Blaubeuren zu entkommen, hatte sie sich Zeitungen aus München, Frankfurt und Berlin abonniert und war systematisch die Stellenanzeigen durchgegangen. Sie entsprach dem gesuchten, dynamischen Architekten, sie beherrschte alle geforderten Kenntnisse und Fertigkeiten, auch wenn sie weiblich war. Sie konnte Tag und Nacht arbeiten und Bauleitungen waren ihr geradezu auf den Leib geschnitten. Sie hatte auch keine Probleme mit dem harten Ton, der an Baustellen herrschte. Dreckige Witze und lockere Sprüche konnten sie nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Es war ihr immer gelungen sich entsprechenden Respekt zu verschaffen. Fehlender Muskelkraft war sie mit Humor und Intelligenz entgegengetreten. Davor hatte der einfachste Baugeselle Respekt. Sie spürte gleich, dass dies ihre Chance werden würde, als sie sich in Berlin bei Rhett Baily, Immobilien und Investment, vorstellen durfte. Rhett arbeitete damals schon in dem Bürogebäude, in dem auch heute noch der Sitz der Firma war. Acht Bewerber hatten sich vorgestellt, junge, propere Männer, dann war sie an der Reihe gewesen. Rhett hatte sich verfärbt, als sie sein Büro betreten hatte und hatte sie ungläubig angestarrt. „Ich arbeite viel härter als Männer!“, hatte sie versucht den beiden anwesenden Herren jeden Wind aus den Segeln zu nehmen. Schließlich war in der Anzeige ausdrücklich nach Männern gesucht worden.