Einführung: Sozialraumorientierung in den Hilfen zurErziehung: Politisches Versprechen und die Routinender OrganisationenDie Diskussion in den Hilfen zur Erziehung ist seit vielen Jahren von demVersprechen bestimmt, die erzieherische Jugendhilfe durch eine stärkereOrientierung auf den sozialen Raum ihrer Adressat_innen wirkmächtiger zugestalten. Dabei wird weniger die Frage behandelt, welche Bedeutung demsozialen Raum im jeweiligen Einzelfall zukommt. Der Schwerpunkt wirdeher auf die Kooperation und Vernetzung der Organisationen gelegt, mitdenen die Adressat_innen in ihrem täglichen Leben in Kontakt sind, tretenkönnten oder treten sollten. Das sind vor allem die Schulen, die Kindertagesheime, die offenen Angebote der Kinder- und Jugendhilfe, Beratungsstellenoder Kinder- und Familienzentren, um nur einige zu nennen. Die Redeist daher zumeist von staatlichen oder staatlich finanzierten Angeboten. DieHilfen für Familien mit diesen Angeboten zu verknüpfen verspricht, besser, schneller und kostengünstiger zum Erfolg im Einzelfall zu kommen. So ist die Sozialraumorientierung der Jugendhilfe der Versuch, ein dreifachesVersprechen einzulösen: Die erzieherische Jugendhilfe soll durch eineOrientierung auf den sozialen Raum erstens für die Menschen, die das etwasangeht und die darauf angewiesen sind, hilfreicher gestaltet werden. Zweitens sollen sich diese Effekte auch wirtschaftlich auswirken. Drittenssollen die Organisationen selbst davon profitieren und einen Professionalisierungs-und Legitimationsschub erhalten. Entsprechend wird mit diesem sozialräumlichen Ansatz den Organisationender erzieherischen Jugendhilfe und bedingt der Schule und der sie umgebendenpolitischen Umwelt die allergrößte Bedeutung zugemessen. Inder Sozialen Arbeit finden wir dabei ein Raumverständnis mit dem breitenBegriff des „Sozialraums“ vor. Es wird davon ausgegangen, dass Handeln insozialen Beziehungen in wechselseitiger Interaktion mit dem Raum steht, dem Sozialraum. Im Sozialraum verwirklichen Menschen ihr Handeln. DieSoziale Arbeit soll dieses wechselseitige Verhältnis von Raum und sozialemHandeln mit ihrer Sozialraumorientierung unterstützten und befördern. Das in dieser Verknüpfung von Sozialraum und erzieherischen Hilfen liegendeVersprechen ist mittlerweile als politische Vorgabe verordnet. Ihre fachlicheLegitimation nimmt die Soziale Arbeit dagegen aus ihrer Geschichte14Dorothee Bittscheidt, Michael Lindenbergselbst, wie zum Beispiel der Lebensweltorientierung, der Hilfe zur Selbsthilfeund der Entsäulung der Jugendhilfe. Doch alle wissen: der Weg dieser Umsteuerung ist mühselig. Weder sinken– über alle Hilfearten betrachtet – die Fallzahlen und die Kosten der erzieherischenJugendhilfe, noch gibt es bisher überzeugende Nachweise, dass dieProbleme von Familien angemessener aufgegriffen und erfolgreicher bearbeitetwerden. Nach den in diesem Sammelband gezeigten Befunden liegtdas vor allem an den rechtlichen und durch Verfahrensregeln gestütztenRoutinen der Organisationen. Gemeint ist die Einzelfallorientierung im AllgemeinenSozialen Dienst und bei den Trägern der erzieherischen Hilfen, gemeintist die gewachsene Arbeitsteilung zwischen Schule und Jugendhilfe, gemeint sind die unterschiedlichen Zuständigkeiten von Ämtern, Bezirkenund Landesbehörden mit dem Resultat eingeschränkter Steuerung der erzieherischenHilfen, um nur die wichtigsten Faktoren zu benennenIn der theoretischen Debatte über den Sozialraum, die in allen folgendenBeiträgen aufgegriffen wird, wird dagegen diskutiert, dass die Wirkmächtigkeitder Sozialraumorientierung sich erst einstellen kann, wenn die Organisationenihre jeweiligen Systemgrenzen überschreiten und nicht nur mitihrer je eigenen Logik und ihren eigenen Vorstellungen an andere Organisationenanschließen. Aber: wenn die Jugendhilfe in der Schule wirkmächtigwerden soll, dann ändert das die Schule; und wenn die Schule mit ihrenOrganisationszielen auf die Jugendhilfe einwirkt, dann entsteht eine andereJugendhilfe. Und über das Hierarchieproblem zwischen Schule und Jugendhilfehaben wir dabei noch nicht einmal gesprochen. Daher gehen die beteiligten Schulen und Träger lediglich Zwischenschritte, mit denen sie ihre jeweilige Systemautonomie einerseits erhalten wollenund sich zugleich auf den Sozialraum orientieren können: AusgewählteOrganisationen (Jugendhilfe und Schule) werden durch von staatlichenOrganisationen gegebene finanzielle und organisatorische Anreize in ihrenKooperationen unterstützt. Diese Kernkooperationen sollen ausgeweitetwerden, andere Organisationen sollen hinzukommen (etwa: Kinder- undFamilienzentren, Angebote der offenen Kinder- und Jugendhilfe, Sportvereine). Kooperieren eine ausreichende Anzahl von Organisationen auf den„Sozialraum“ hin, wird von „Vernetzung“ gesprochen. Vernetzung wird definiertals eine Vielzahl von Kooperationen (mehr als zwei, nach oben offen)von staatlichen und nicht- staatlichen Organisationen in einem räumlichbestimmten sozialen Feld.15EinführungAus den Ergebnissen der hier vorgestellten Forschungsarbeiten lassen sichwichtige Indizien dafür ableiten, dass die Organisationen weiterhin in ihrenRoutinen und den spezifischen Regeln und fraglos auch legitimatorischenZwängen ihres Handelns befangen bleiben. Dieser Befund war zu erwarten. Doch noch viel weiter gehend lassen die in diesem Band zusammengetragenenForschungsarbeiten aus einem Hamburger Sozialraum erkennen, dass angesichts der neuen Anforderungen, sich in den Sozialraum hineinzu erstrecken, die Organisationsgrenzen neu abgesteckt werden, anstatt siezu öffnen. So führt der Weg der neuen Öffnung in den Sozialraum in neueSchließungen der beteiligten Organisationen. So jedenfalls lässt sich derGeneralbefund aus allen hier vorgelegten Forschungsarbeiten zusammenfassen. Dieses Buch greift einige der damit verbundenen praktischen Aspekte auf. Den empirischen Kern dieses Bandes bilden dabei Forschungsarbeiten vonStudierenden des Masterstudiengangs „Soziale Arbeit – Planen und Leiten“der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie, Hamburg. Es handelt sich bei diesen Beiträgen jeweils um Ergebnisberichte von Forschungsarbeiten. Im Rahmen dieser Veröffentlichung mussten wir uns notwendigEinschränkungen bezüglich der empirischen Nachweise unterwerfen, weil einige der untersuchten Einrichtungen, völlig nachvollziehbar, besonderen Wert darauf legen mussten, dass Handelnde und Organisationbei einer Veröffentlichung anonym bleiben. Darauf war selbstverständlichRücksicht zu nehmen. Die Forschungen orientieren sich in Methodologie und Methode an einemqualitativen Grundverständnis. Sie zielen darauf, Routinen und Grundmusterdes Alltagsverständnisses der Akteure zu verstehen und nachzuzeichnen; sie treten nicht mit dem Anspruch auf, die Wirklichkeit zu erklären. Trotz dieses notwendig eingeschränkten Geltungsanspruchs beschäftigensich die Autor_innen auch mit der Frage, wie eine Praxis aussehen könnte, die dem sozialräumlichen Versprechen in den untersuchten Praxisbereicheneher gerecht wird bzw. welche Bedingungen dazu hergestellt werdenmüssten. Diese zweifellos immer wieder versuchten Wege, die die Beiträgeebenfalls zeigen, mag vielleicht die Enttäuschung der Vertreter_innen derangesprochenen Praxisbereiche über allzu harsche Kritik der Forschungsergebnissean ihrer Praxis mildern. Die vier forschungsorientierten Beiträge der Studierenden werden durchMichael Lindenberg eingeleitet. Er entwickelt den heutigen Begriff des Sozi16Dorothee Bittscheidt, Michael Lindenbergalraumes aus einer historischen Perspektive und weist dabei auf die „sozialpädagogischeWende“ hin, mit der sich die Soziale Arbeit den eigentlichpolitisch gemeinten Begriff des Sozialraums zu Eigen gemacht hat und aufdiesem Weg in ihre am Individuum orientierte Denkwelt umsetzen konnte. Manuel Essberger, Jochim Gerbing und Tilman Lutz zeichnen in ihrem Beitrag ineinem zweiten Schritt die Entwicklung der Sozialraumorientierung in Hamburgseit den 1990er Jahren nach und markieren dabei das Spannungsfeldzwischen ökonomischen und inhaltlich-konzeptionellen Interessen. Abschließendbeleuchten sie beispielhaft zwei aktuelle Kontroversen im Kontextder sozialräumlichen Weiterentwicklung der Jugendhilfe in Hamburg. Damit ist der Boden bereitet, um in die Wirklichkeit der Praxis einzuführenmit vier forschungsorientierten Beiträgen, die im Rahmen einer viersemestrigenForschungswerkstatt an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeitund Diakonie in Hamburg (Rauhes Haus) erarbeitet wurden. Sie behandelnin dieser Reihenfolge folgende Fragen: Orientiert sich der Allgemeine Soziale Dienst und orientieren sich die (freien)Träger der erzieherischen Hilfen in ihren Entscheidungen über die Hilfeund deren Durchführung tatsächlich, wie es der Gesetzgeber vorsieht, amWillen der Adressaten, an ihren Potentialen und den Ressourcen ihres persönlichenund sozialen Umfelds? (Anna Zschau und Martin Wessels)Wird die sozialräumlich orientierte Arbeitsweise im Allgemeinen SozialenDienst bei Fällen mit drohender Kindeswohlgefährdung als wenig geeigneteArbeitsweise eingeschätzt? Ist die Orientierung am Willen des Adressatenund seinen Potenzialen eher den Fällen mit geringerer Problemdichte vorbehalten?(Christina Kentmann)Wie hat sich das Verhältnis von Jugendhilfe und Schule entwickelt? Wassoll eine engere Kooperation leisten? Welche professionsspezifischen Unterschiedeprägen diese Kooperation im Ort Schule? (Jenilee Chung)Welche Entwicklungen ist für die Jugendhilfe absehbar, wenn Projekte imZuge der Ausweitung sozialräumlicher Hilfen und Angebote mit dem Zieletabliert werden, sie mit dem Regelangebot vor allem der Schule zu verknüpfen?(Tina Röper und Anna-Lena Witte)Dorothee Bittscheidt bezieht sich im abschließenden Kapitel auf die empirischgewonnenen Einschätzungen aus den Forschungsarbeiten der StudierenEinführungden. Sie prüft Ergebnisse aus bundesweiten Forschungen zum AllgemeinenSozialen Dienst, Konzepte und Vorgaben der Landesregierung in Hamburg, Berichte der Hamburger Verwaltung und Debatten des Landesparlamentsunter der Perspektive, ob es mit Hilfe der Sozialraumorientierung gelingenkann, die erzieherischen Hilfen wirksamer zu gestalten und zugleich dieZuwachsraten der Fälle und der Kosten im Bereich erzieherischer Hilfen zumindern. Unsere Danksagung gilt in erster Linie den Kollegen und Kollegen des Jugendamtesin Hamburg- Bergedorf und einer Reihe von Schulvertretern undSchulvertreterinnen, die sich den Fragen unserer Studierenden bereitwilliggestellt haben. Vor allem aber gilt unser Dank dem Leiter des JugendamtesBergedorf, Herrn Helmut Lerch, der uns alle notwendigen Wege geöffnetund sogar geebnet hat, wohl wissend, dass Forschungsbefunde nicht vorhersehbarsind und vielleicht aus Sicht eines Jugendamtes auch unerfreulichausfallen können. Trotzdem hatte er den Mut, sich unseren Ergebnissen zu stellen.