'Die Entwendung führt die vergangenen kritischen Folgerungen,
die zu ehrenwerten Wahrheiten erstarrt sind, d. h. in
Lügen verwandelt wurden, wieder der Subversion zu'15,
schreibt Guy Debord in Die Gesellschaft des Spektakels.
Ganz in diesem Sinne legt Pichler bei seinem ›writing-through‹
latente Bedeutungsnuancen in Stirners Text offen. Er hält sich
dabei an die Überzeugung der Situationisten, 'that interventions
must always be made within preexisting structures'16. Nur
noch die Wörter 'Ich' und 'Mein' stehen lassend, gelingt es
ihm, aus Stirners Text, der ursprünglich wohl den Titel 'Ich'
tragen sollte17, das herauszuholen, was tief und doch ganz
offen in ihm steckt – so klar hat man den Grundimpetus, den
Kern der Stirnerschen Philosophie bisher kaum vor Augen geführt
bekommen.
Dabei tritt Pichler nicht wie Helms als Herausgeber eines gekürzten
und bearbeiteten und somit verfälschten Stirner-Textes
auf, sondern als Autor eines eigenständigen Textes, dem
Stirners Text als Material diente.18 Bei Pichler sind die Prinzipien
der Textzensur und -auswahl klar ersichtlich und darüber
hinaus markiert – zwar nicht mit Hilfe von Visualisierungen
wie Durchstreichungen, Ausstreichungen, schwarzen Balken
o.ä., wie es gewöhnlich in aus politischen Gründen zensierten
Texten, aber auch häufig in Texten experimenteller Literatur
mit ihrer ausgeprägten erasure poetry der Fall ist, etwa in Gerhard
Rühms Neue Tageszeitung und Übermaltes Buch, Arno Schmidts
Zettel’s Traum, Man Rays Lautgedicht, Marcel Broodthaers Un
Coup de Dés (image), Bob Browns Gems: A Censored Anthology.
Der Eingriff in den Originaltext und insbesondere das Ausmaß
der umfangreichen Streichungen werden aber durch Bei-
behaltung des Reclam-Layouts und der originalen Seitenzahl
deutlich signalisiert. Vom Ursprungstext wird in großen Teilen
das Schriftbild, die Druckfarbe, eliminiert, nicht aber der
von ihm einst eingenommene Raum – sowohl im Haupttext
insgesamt, der weiter 412 Seiten enthält, als auch auf jeder einzelnen
Seite, deren Kolumnentitel und Stege nun weiße, größtenteils
leere Flächen rahmen.
Ein Nebeneffekt dieser Löschungen ist, dass sowohl das Weiß
der Seiten als auch das diskursorganisierende Prinzip einer
Buchseite mit Blattrand, Steg, Kolumne und Titel, Pagina, Satzspiegel
etc. in ihrer Bedeutung für die Konstitution eines Textes
bewusst wahrgenommen werden. Ganz im Sinne
Mallarmés, der in Un Coup de Dés als einer der ersten die Bedeutung
des Weiß der Buchseite erkannte19, sind daher auch in
Pichlers Der Einzige und sein Eigentum das Buchvolumen, das
Weiß der Seiten und die Paratexte genauso Bedeutungsträger
wie die Schriftzeichen selbst.
-- Annette Gilbert
-- Annette Gilbert