Entgegen dem ersten Anschein, den die herkömmliche Übersetzung als »Bittleihe« weckt, ist das römische precarium kein Verhältnis der Nutzungsüberlassung und wahrscheinlich auch nie gewesen. Es ist vielmehr ein Institut, das eine aus anderem Grund gewährte Sachüberlassung oder Nutzungsgestattung ergänzt, indem es einem Teil, dem Geber, den sofortigen Zugriff durch eine günstige Besitzposition verschafft und eine ungewollte Rechtsentstehung zugunsten des Prekaristen verhindert. Das Mittel hierzu ist ein Besitzvertrag, mit dem sich der Prekarist dem Geber unterwirft und sich auf eine Stufe mit Besitzern stellt, die eine Sache gewaltsam oder heimlich erlangt haben. Dieses besondere Institut prägt die Diskrepanz zwischen seinem vertraglichen Begründungsmodus und seinem Effekt, der in der Tatsache fehlerhaften Besitzes besteht. Sie führt zu einer schwankenden Einordnung des precarium in der römischen Jurisprudenz und ist letztlich auch für die Abschaffung des Instituts verantwortlich, das sich nicht zum Begriff des Besitzes als tatsächlicher Sachherrschaft fügt.
Precarium. von Jan Dirk Harke | Besitzvertrag im römischen Recht. | ISBN 9783428145584